Im Blog des Paritätischen Gesamtverbandes geht Dr. Andreas Aust, Referent für Sozialpolitik bei der Paritätischen Forschungsstelle, auf die Ernährungsarmut in Deutschland ein und darauf, dass ein allgemeiner Zugang zu gutem Essen in Deutschland erschwert ist. Er führt Faktoren auf, die diese Problematik belegen und wie der Ernährungsarmut entgegengewirkt werden kann.
Armut zeigt sich in Deutschland auf ganz unterschiedliche Arten. Eine davon ist Ernährungsarmut. Dr. Andreas Aust, Referent für Sozialpolitik bei der Paritätischen Forschungsstelle, berichtet, warum sie hierzulande ein Problem ist und mit welchen Schritten sie bekämpft werden kann.
Der Umfang und die Entwicklung von Armut in Deutschland werden vom Paritätischen Gesamtverband jährlich durch die Vorlage des Armutsberichts dokumentiert. Der jüngst veröffentlichte Armutsbericht 2020 weist darauf hin, dass die Armutsquote in Deutschland mit 15,9 Prozent einen neuerlichen Höchststand erreicht hat.
Armut bedeutet in erster Linie: zu wenig Geld, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die grundlegenden Bedürfnisse – Ernährung, Wohnung, Kleidung – gesichert seien; insbesondere die Leistungen der Grundsicherung seien auskömmlich. Ähnliche Befunde präsentiert auch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung auf der Grundlage von eigenen Befragungen: Die Grundversorgung sei gesichert. Demgegenüber soll hier – in Anlehnung an Überlegungen von Sabine Pfeiffer – gezeigt werden, dass es auch in Deutschland massive Defizite bei der Ernährung gibt. Von einem allgemeinen Zugang zu gutem Essen sind wir weit entfernt: Ernährungsarmut ist in Deutschland ein Problem.
Mehrere Faktoren können angeführt werden, um diese Aussage zu belegen.
Erstens: Die Leistungen der Grundsicherung reichen nicht aus, um sich auskömmlich ernähren zu können.
Dies zeigt bereits der gesunde Menschenverstand, denn für eine*n Erwachsene*n stehen lediglich 150 Euro im Regelbedarf für die kompletten Lebensmittelausgaben pro Monat zur Verfügung. Das sind fünf Euro am Tag für sämtliche Mahlzeiten und Getränke. Das reicht insbesondere nicht, wenn man sich nicht nur irgendwie sättigen will, sondern sich auch um eine „gute“ Ernährung bemüht. Dazu müsste wesentlich gehören, dass eine gesundheitsförderliche Ernährung finanziell überhaupt möglich ist. Faktisch ist es aber so, dass ernährungsphysiologisch günstigere Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Fisch oder mageres Fleisch teurer sind andere „energiedichte“ Lebensmittel. Daher können auch die offiziellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung von Grundsicherungsbeziehenden nicht eingehalten werden. Dies hat ein Gutachten für die Europäische Kommission nachdrücklich gezeigt.
„Gute“ Ernährung bedeutet darüber hinaus: Es muss auch möglich sein, ökologisch nachhaltige Produkte zu kaufen. Immerhin ist diese Erkenntnis nun ein Stück weit auch im Umfeld der Bundesregierung angekommen. So heißt es in einem Gutachten mit dem Titel „Politik für eine nachhaltigere Ernährung“ des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft aus diesem Jahr ausdrücklich: „Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren.“ (S. 114f.). In den Empfehlungen des Gutachtens rät der Beirat der Bundesregierung daher ausdrücklich, „die Berechnungsmethodik für die Bedarfsermittlung so anzupassen, dass die Grundsicherungsleistungen eine gesundheitsfördernde Ernährung ermöglichen“ (S.666). Leider sind diese Empfehlungen beim zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales offenkundig nicht angekommen oder sie wurden schlicht ignoriert: Bei der Neufestsetzung der Leistungen der Grundsicherung haben diese Erkenntnisse leider keine Rolle gespielt. Die Grundsicherungsleistungen bleiben auch nach der Neufestsetzung zum kommenden Jahr auf demselben unzureichenden Niveau wie zuvor.
Zweitens: Die Auswirkungen der zunehmenden „Ernährungsarmut“ werden durch das mittlerweile fast flachendeckende Angebot von den Tafeln und ähnlichen Angeboten zivilgesellschaftlich kompensiert.
Die Idee der Tafeln ist so einfach wie bestechend: Lebensmittel, deren Verzehr unbedenklich ist, die aber nach den gängigen Marktprinzipien nicht mehr verkäuflich sind, werden eingesammelt und an bedürftige Menschen abgegeben. Die Organisation dieses Austausches haben sich die Tafeln zur primären Aufgabe gemacht. Dafür sammeln sie bei Supermärkten, Händlern oder Herstellern Lebensmittel ein und stellen sie bedürftigen Menschen zur Verfügung. Nach eigener Aussage schaffen sie damit einen Ausgleich zwischen Überfluss und Mangel. Die unter Gesichtspunkten einer nachhaltigen Wirtschaftsweise skandalöse Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln wird zumindest reduziert. Für bedürftige Menschen werden – zumeist gegen eine symbolische Bezahlung – einwandfreie Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt.
Die Tafeln sind privat organisiert und gemeinnützig, d. h. sie erwirtschaften mit ihrer Vermittlungstätigkeit keinerlei Gewinne. Ein Großteil der Arbeit wird dezentral durch 60.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer vor Ort geleistet. Nach den jüngsten Zahlen gibt es mittlerweile etwa 950 Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen. Inzwischen gibt es fast ein flächendeckendes Angebot. Genutzt werden die Tafeln von etwa 1,65 Millionen Menschen, Voraussetzung dafür ist, dass sie ihre Hilfebedürftigkeit belegen können. Der Großteil der Menschen, die Angebote der Tafeln in Anspruch nehmen, ist demnach auf existenzsichernde Leistungen der Grundsicherung (in einer ihrer verschiedenen Ausprägungen) angewiesen. Die Expansion dieses zivilgesellschaftlichen Angebots ist aber zugleich ein deutlicher Ausdruck von bestehender sozialer Ungleichheit, insbesondere unzureichenden Leistungen der Grundsicherung und von Ernährungsarmut. Der Staat entledigt sich damit ein Stück weit seiner genuinen Verantwortung.
Drittens: Essen erschöpft sich nicht in der Aufnahme von Nährstoffen, sondern ist ein soziales Ereignis.
Gemeinsame Mahlzeiten erfüllen nicht nur den Zweck Nahrung und Energie aufzunehmen, sondern sie sind zugleich ein wichtiger Faktor der sozialen Teilhabe. Einkommensarmen Menschen stehen aber in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft kaum noch soziale Orte für gemeinsame Mahlzeiten offen, die kein Geld kosten.
Nach der Auffassung der Bundesregierung sind Ausgaben für auswärtige Mahlzeiten für Hartz-IV-Beziehende sowieso ein unnötiger Luxus. Folgerichtig werden entsprechende Ausgaben bei der Ermittlung der Leistungen nicht berücksichtigt. In der Regelbedarfsermittlung durch die Bundesregierung wird der „Warenwert“ von auswärtiger Ernährung ermittelt und beim Bedarf zugerechnet; sprich: Ein*e Hartz-IV- Beziehende *r soll also zu Hause bleiben und sich dort verköstigen – und zwar regelmäßig.
Armut schlägt sich also schon heute in massiven Problemen bei der Ernährung nieder. Absehbar ist darüber hinaus, dass im Rahmen eines – wünschenswerten – ökologischen Umbaus der Landwirtschaft, einer deutlichen Verbesserung des Tierwohls und der generell stärkeren Ausrichtung auf eine nachhaltigere Ernährung auch die Preise für Lebensmittel steigen werden. Entscheidend für die Akzeptanz dieser Maßnahmen wird sein, dass diese Kosten nicht hauptsächlich über die Preise bei den Konsument*innen abgeladen werden. Das wird zwar für den wohlhabenderen Teil der Mittelschicht kein großes Problem sein, da der Anteil der Haushaltsausgaben für die Ernährung in den letzten Jahrzehnten immer geringer wurde. Wohlhabende Haushalte geben aktuell gerade mal noch zehn Prozent ihres Budgets für Nahrungsmittel aus. Bei den ärmeren Haushalten sind es demgegenüber 17 Prozent. Diese Haushalte würden besonders leiden: Sie haben weniger Geld zur Verfügung und davon müssen sie anteilig darüber hinaus deutlich mehr für die Ernährung ausgeben. Eine Politik, die zu einer Verteuerung der Lebensmittel führt, muss daher zwingend und systematisch mit Maßnahmen zum Abbau von sozialer Ungleichheit einhergehen. Stärkung von Nachhaltigkeit muss immer die soziale Komponente beinhalten, sonst kann sie nicht gelingen. In Bezug auf die Ernährung kann man an verschiedenen Ideen des bereits zitierten Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft anknüpfen: Erhöhung der Regelbedarfe in der Grundsicherung für die Ernährung, eine systematische Kompensation der 40 Prozent einkommensschwächsten Haushalte – der Beirat spricht etwa von 50 Euro pro Jahr, wobei über konkrete und angemessene Höhen einer Kompensation natürlich noch gestritten werden muss – und ein systematisches Monitoring von Ernährungsarmut. Dies wären ebenso wie der weitere Ausbau von beitragsfreier Kita- und Schulverpflegung sinnvolle erste Schritte zu dessen Bekämpfung.
In verschiedenen Städten Deutschlands haben sich Ernährungsräte gebildet, die sich die Beförderung eines Zugangs zu gutem Essen für alle auf die Fahnen geschrieben haben. Der Ernährungsrat in Berlin hat mich zu einem Podcast-Gespräch eingeladen und mit mir über die Verknüpfung von Ernährung und sozialer Frage gesprochen. Das Gespräch kann hier angehört werden. Eine begleitende Powerpoint-Präsentation kann hier heruntergeladen werden.
Quelle: Andreas Aust für Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V.