Die geplante Regelsatzanpassung zum 1.1.2022 von weniger als ein Prozent kommt faktisch einer versteckten Kürzung bei Hartz IV und anderen existenzsichernden Leistungen gleich. Da die Preisentwicklung durch die Anpassung nicht ausgeglichen wird, sinkt die Kaufkraft. Die Leistungsberechtigten können sich faktisch noch weniger leisten als bisher. Ein im Auftrag des Paritätischen verfasstes Gutachten von Prof. Anne Lenze kommt zu dem Schluss, dass die absehbare Kaufkraftminderung abgewendet werden muss, um einen verfassungsrechtlich relevantes, weiteres Absinken der Regelbedarfe zu vermeiden.
Nach den Bestimmungen zur Fortschreibung der Regelbedarfe sollen die Regelbedarfe in den Grundsicherungssystemen (insbes. Hartz IV, Grundsicherung im Alter und Erwerbsminderung, Asylbewerberleistungsgesetz) zum 1.1.2022 um 0,76 Prozent fortgeschrieben werden. Eine entsprechende Verordnung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegt. Der Paritätische hatte den Entwurf frühzeitig öffentlich gemacht und als „lächerlich gering“ kritisiert. 3 Euro mehr für Jugendliche und Erwachsene sind viel zu wenig. Diese Anpassung gleicht faktisch nicht einmal die Inflation aus. Die Preise haben sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Juli 2021 gegenüber dem Vorjahresmonat um 3,8 Prozent erhöht. Im August stieg die Inflationsrate bereits auf 3,9 Prozent. Insbesondere für Nahrungsmittel muss von den Verbraucher*innen deutlich mehr ausgegeben werden als im Vorjahresmonat (plus 4,6 Prozent im August). Faktisch ist damit die vermeintliche Fortschreibung eine versteckte Kürzung der Leistungen, die eigentlich das menschenwürdige Existenzminium garantieren sollen.
In einem vom Paritätischen Gesamtverband in Auftrag gegebenen „verfassungsrechtlichen Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1. 2022“ bewertet Prof.in Anne Lenze (Darmstadt) die geplante Anpassung der Regelbedarfe aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive. Lenze referiert die beiden zentral einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus 2010 und 2014. Bereits 2014 habe das Bundesverfassungsgericht die Regelbedarfe als an der „Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert“ sei, bewertet. Der Gesetzgeber hätte bereits in Reaktion auf dieses Urteil mit einer Anhebung der Regelbedarfe oder mit zusätzlichen Ansprüchen reagieren müssen. Beides sei nicht geschehen. Vor diesem Hintergrund sei die anstehende Regelbedarfsanpassung definitiv unzureichend. Die Anpassung liege deutlich unter der Preisentwicklung und führe damit „evident zu einem spürbaren Kaufkraftverlust von Bezieher*innen von Grundsicherungsleistungen und einer Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums“. Die Autorin schließt ihr Kurzgutachten mit der Aussage: „Da die Regelbedarfe nach Auffassung des BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 schon am untersten Rand des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren lagen, muss die absehbare Kaufkraftminderung (…) umso dringlicher abgewendet werden, um ein weiteres Absinken der Regelbedarfe unter die Schwelle des menschenwürdigen Existenzminimums abzuwenden.“ In einfacheren Worten ausgedrückt: der Gesetzgeber ist gehalten den Kaufkraftverlust abzuwenden, um eine verfassungswidrige Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums noch zu verhindern.
Zum Hintergrund: Die Höhe des Regelbedarfs wird alle fünf Jahre auf der Grundlage der Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) neu ermittelt. In der Zwischenzeit regelt der § 28a SGB XII die Fortschreibung der Regelbedarfe. Zugrunde gelegt wird bei dieser Fortschreibung ein sog. Mischindex aus der Inflations- und Einkommensentwicklung. Die Entwicklung der Preise der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienste geht mit 70 Prozent und die Entwicklung der Einkommen mit 30 Prozent in den Mischindex ein. Die Preisentwicklung nach § 28a SGB XII bezieht die Entwicklung des Preisindexes im laufenden Jahre auf die Entwicklung im Vorjahr. Nach diesem Vorgehen gibt es keine nennenswerten Preissprünge. Die Fortschreibungsverordnung benennt eine Steigerung der regelbedarfsrelevanten Preise von 0,132%, also eine weitgehende Stabilität. Die praktizierte Vorgehensweise ignoriert die Tatsache, dass während des jüngsten Jahres ein deutlicher Preissprung stattgefunden hat. Der Index der regebedarfsrelevanten Preise ist von 104,79 im Juli 2020 auf 108,17 im Juli 2021 gestiegen. Dies entspricht einem Anstieg der regelbedarfsrelevanten Preise in diesem jüngeren Zeitraum von etwa 3,2 Prozent. Dieser Preisanstieg wird aber in dem Vorgehen des Fortschreibeverfahrens nicht abgebildet.
erschienen in: Der Paritätische Gesamtverband, 7. Oktober 2021