Arbeitslos zu werden, gilt, neben gesundheitlichen Schicksalsschlägen, seit jeher als einschneidendes Lebensereignis mit potenziell gravierenden negativen Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit. Neben der Alltagserfahrung vieler Menschen, die Arbeitslosigkeit erfahren haben, hat auch die Forschung diesen Befund immer wieder klar herausgestellt. Warum aber macht sich der Verlust von Arbeit vielfach so negativ bemerkbar?
Schon die renommierte Sozialpsychologin Marie Jahoda vertrat in einem 1983 publizierten Aufsatz die These, dass Erwerbsarbeit für den Menschen nicht nur ein Mittel zum Einkommenserwerb ist, sondern darüber hinaus auch wichtige psychologische Funktionen erfüllt. Dabei unterschied sie fünf sogenannte latente Funktionen der Arbeit. Demnach gibt Erwerbsarbeit dem Alltag eine zeitliche Struktur, vermittelt Sozialkontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Haushalts, bindet die Arbeitenden in kollektive Ziele ein, trägt zur Definition ihres sozialen Status beziehungsweise ihrer Identität bei und sorgt für eine regelmäßige Tätigkeit beziehungsweise ein höheres Aktivitätsniveau.
Nach Jahoda erfüllt alleine Erwerbsarbeit sämtliche der genannten Funktionen. Wenn Menschen ihre Arbeit verlieren, dann fallen diese weg, was sich schädlich auf die mentale Gesundheit der Betroffenen auswirken kann.
Bislang stützte sich die Forschung zu diesem Thema oft nur auf kleine Fallzahlen und wenig repräsentative Daten, die zudem keine detaillierten Informationen zur Erwerbsbiografie der Befragten enthalten. Dank der IAB-Panelbefragung „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ sind inzwischen jährliche Angaben von mehr als 9.300 Personen verfügbar. Dies erlaubt erstmals detaillierte Untersuchungen für Menschen mit unterschiedlichem Erwerbsstatus.
Neben den fünf genannten latenten Funktionen wird bei der Erhebung auch die von den Betroffenen subjektiv empfundene finanzielle Belastung abgefragt. Im Gegensatz zur objektiven Einkommensmessung bildet dieses Maß potenziell weitere Faktoren wie die Kaufkraft und die Sparneigung der Befragten ab.
Bei den latenten Funktionen zeigen sich je nach Erwerbsstatus erhebliche Unterschiede
Die Abbildung zeigt, wie stark die Werte der latenten und manifesten Funktionen für Gruppen mit unterschiedlichem Erwerbsstatus vom Durchschnitt der Bevölkerung abweichen. Dabei sind die Einflüsse von Alter, Geschlecht, Bildung und Haushaltszusammensetzung bereits (mithilfe einer sogenannten linearen Regression) herausgerechnet. Demnach sind die Unterschiede nicht etwa dadurch zu erklären, dass Vollzeit-Erwerbstätige im Durchschnitt beispielsweise ein höheres Bildungsniveau aufweisen als Arbeitslose.
Im Vergleich zum deutschen Bevölkerungsdurchschnitt fehlt vor allem den Arbeitslosen die zeitliche Struktur im Alltag. Inaktive, also erwerbslose, aber nicht arbeitslos gemeldete Personen wie Rentner oder Hausfrauen und Hausmänner weisen hier sogar leicht überdurchschnittliche Werte auf. Mini-Jobber liegen dagegen etwas unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Überdurchschnittlich ist die Funktion einer vorhandenen Zeitstruktur vor allem bei Voll- und Teilzeitbeschäftigten ausgeprägt.
Bei den Sozialkontakten weisen Inaktive und, in noch weit stärkerem Maße, Arbeitslose unterdurchschnittliche Werte auf. Dies ist umso problematischer, als der Kontakt zu anderen Menschen gerade in schwierigen Lebenslagen oft einen wichtigen Rückhalt bietet.
Erwerbstätige, und hier wiederum insbesondere die Teilzeitbeschäftigten, erzielen die höchsten Werte für Sozialkontakte. Möglicherweise gelingt es Teilzeitbeschäftigten am besten, einen für sie guten Kompromiss zwischen Arbeitszeit, Kontakten durch die Arbeit und persönlichen Kontakten außerhalb der Arbeit zu finden.
Auch bei der Teilhabe an kollektiven Zielen, also der Mitwirkung an sozialen und gesellschaftlichen Vorgängen jenseits der eigenen Ziele, schneiden Arbeitslose unterdurchschnittlich ab. Es sind vor allem die Beschäftigten in Voll- oder Teilzeit, die sich stark mit überindividuellen Zielen identifizieren.
Die Einschätzung des eigenen sozialen Status und der eigenen Identität ist ebenfalls bei Arbeitslosen schwächer ausgeprägt als im Mittel der Bevölkerung. Hier weisen sowohl Erwerbstätige als auch Inaktive deutlich höhere Werte auf als Arbeitslose. Denn viele Menschen, die arbeitslos werden, dürften dies als Statusverlust empfinden. Nicht so jedoch Menschen, die beispielsweise in Rente gehen. Sie müssen sich anders als Arbeitslose in aller Regel nicht gesellschaftlich dafür rechtfertigen, dass sie keiner Arbeit mehr nachgehen.
Die regelmäßige Tätigkeit beziehungsweise Aktivität steigt mit zunehmender Bindung an den Arbeitsmarkt erwartungsgemäß stark an: Arbeitslose Befragte erzielen auch hier die niedrigsten Werte, während Vollzeitbeschäftigte auf dieser Skala die höchsten Werte erreichen.
Am stärksten sind die Unterschiede bei der subjektiven finanziellen Belastung
Der deutlichste Unterschied zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen besteht jedoch beim manifesten Faktor finanzielle Belastung. Wie erwartet, empfinden Arbeitslose ihre finanzielle Belastung am stärksten, während diese bei Vollzeitbeschäftigten am geringsten ausfällt.
Mini-Jobber ohne weitere Erwerbstätigkeiten bilden eine Ausnahme unter den Erwerbstätigen. Denn ein Minijob als einziges Erwerbseinkommen reicht in aller Regel nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Fazit
Auch 40 Jahre nach Marie Jahodas wegweisender Forschung zeigt sich, dass Erwerbsarbeit weiterhin wichtige psychologische Funktionen erfüllt. Denn Erwerbstätige schneiden hier deutlich besser ab als Arbeitslose. Dies gilt vor allem für Vollzeitbeschäftigte. Sowohl beim Aktivitätsniveau als auch bei der finanziellen Absicherung rangieren sie an der Spitze aller Erwerbsgruppen.
Teilzeitbeschäftigte wiederum haben bei Sozialkontakten und der Identifikation mit kollektiven Zielen die höchsten Skalenwerte. Somit scheint es für viele der Funktionen zweitrangig zu sein, in welchem Umfang eine Person erwerbstätig ist.
Personen, die lediglich einen Minijob ausüben, weisen bei vielen Funktionen ähnliche Werte wie Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte auf. Eine Ausnahme sind hier die geringere Teilhabe an kollektiven Zielen und eine gefühlt deutlich höhere finanzielle Belastung.
Das Fehlen von Erwerbsarbeit trägt also potenziell nach wie vor zu ähnlich gravierenden psychologischen Folgen bei, wie schon vor 40 Jahren von Jahoda beschrieben. Arbeitslose sind gegenüber Erwerbstätigen in allen sozialpsychologischen Dimensionen benachteiligt. Dies zeigt sich im Fehlen eines geordneten Alltags mit ausreichender Aktivität oder dem Bedürfnis nach sozialem Kontakt, Bestätigung und Integration. Wenig überraschend berichten Arbeitslose zudem von der größten finanziellen Belastung aller Erwerbsstatusgruppen.
Diese eindeutigen Befunde können zu einem erheblichen Teil erklären, weshalb Arbeitslosigkeit oftmals gravierende negative psychologische Folgen nach sich zieht. Weiterführende Analysen von Sebastian Bähr und anderen (im Erscheinen) scheinen dies zu bestätigen.
Daten und Methoden
Um die latenten Funktionen der Arbeit zu untersuchen, wurden Daten der 14. Welle (2020) des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) ausgewertet. Dabei handelt es sich um eine jährliche Panelbefragung der Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren. Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind stark überrepräsentiert, sodass im Vergleich zu anderen Befragungsdaten präzisere Aussagen über diese Gruppe möglich sind. Zugleich lassen sich die Befragungsergebnisse mithilfe von Hochrechnungsfaktoren auf die gesamte Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren hochrechnen. Einen kurzen Überblick über die Methodik gibt ein Artikel von Trappmann und anderen (2019).
Der latente und manifeste Nutzen der Arbeit wurde mit der deutschen Version der verkürzten Latent and Manifest Benefits of Work Scale (LaMB) von Kovacs und anderen (2017) gemessen, einem gut getesteten und in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen verwendeten Instrument. Die LaMB-Skala besteht aus 18 Items, wobei die fünf latenten Funktionen (kollektiver Zweck, sozialer Kontakt, Status, Aktivität und Zeitstruktur) und die selbst eingeschätzte finanzielle Belastung, ein (negativ gepoolter) manifester Nutzen, mit jeweils drei Items gemessen werden. Die Befragten bewerteten jedes Item auf einer siebenstufigen Likert-Skala („stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“).
Die insgesamt sechs LaMB-Funktionen wurden aus standardisierten additiven Indizes konstruiert und haben konstruktionsbedingt Mittelwerte von Null und Standardabweichungen von annähernd Eins. Positive Werte stellen also eine gegenüber der Bevölkerung überdurchschnittliche Ausprägung der Funktionen dar und negative eine unterdurchschnittliche Ausprägung.
erschienen im IAB-Forum vom 7. September 2022, Autoren: Sebastian Bähr & Matthias Collischon
Literatur
Bähr, Sebastian; Batinic, Bernad; Collischon, Matthias: Heterogeneities in the latent functions of employment: New findings from a large-scale German survey. Frontiers in Psychology (im Erscheinen).
Jahoda, Marie (1983): Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim: Beltz.
Kovacs, Carrie; Batinic, Bernad; Stiglbauer, Barbara; Gnambs, Timo (2017): Development of a shortened Version of the Latent and Manifest Benefits of Work (LAMB) Scale. European Journal of Psychological Assessment (0), S. 1–13.
Trappmann, Mark; Bähr, Sebastian; Beste, Jonas; Eberl, Andreas; Frodermann, Corinna; Gundert, Stefanie; Schwarz, Stefan; Teichler, Nils; Unger, Stefanie; Wenzig, Claudia (2019): Data Resource Profile: Panel Study Labour Market and Social Security (PASS). International Journal of Epidemiology, 48(5), S. 1411–1411g.