"Es muss eine vollständige Kostenbefreiung bei der Gesundheitsversorgung und Prävention für einkommensarme Menschen geben: Untersuchungen und Behandlungen in Praxen oder Kliniken müssen für sie grundsätzlich kostenfrei möglich sein. Das schließt auch die Kosten für die Fahrt dorthin mit ein. Gehhilfen, Sehhilfen, Medikamente und anderes medizinisches Hilfsmaterial muss ebenso übernommen werden. Denn wer sich diese Dinge nicht leisten kann, bleibt krank und benachteiligt."
Angesichts der drastisch steigenden Lebenshaltungskosten und der ohnehin schon erhöhten Erkrankungsgefahr vor allem für Armutsbetroffene seit Pandemiebeginn muss die Bundesregierung schnellstens konkrete Maßnahmen ergreifen, um gesundheitliche Risiken einzudämmen.
"Der Zugang zu und die Qualität von Gesundheitsversorgung spielt eine existenzielle Rolle in unserem Sozialsystem. Dieses muss dringend menschenorientierter werden. Es ist ein Baustein in der Praktizierung von sozialer Gerechtigkeit – die wiederum wichtig ist, um den sozialen Frieden im gesellschaftlichen Miteinander zu gewährleisten", verdeutlicht der ehemalige Bundespräsidentschaftskandidat Prof. Dr. Gerhard Trabert. "Gesundheit ist ein Menschenrecht. Förderung und Erhalt der Gesundheit und Gesundung dürfen nicht an den finanziellen Mitteln Einzelner scheitern."
So sei es in §12 des UN-Sozialpakts festgehalten. Doch selbst in unserem reichen Land sehe es für einkommensarme Menschen in der Realität leider ganz anders aus. Allzu oft seien die Gesundheitskosten nicht adäquat abgedeckt, was zu einer Unterversorgung mit kritischen Auswirkungen, wie zum Beispiel chronischen Krankheiten, führt. "Kurz gesagt: Armut macht krank und Krankheit macht arm. Das darf so nicht bleiben!", erklärt Trabert.
Nach Darstellung des bekannten Mainzer Sozialmediziners sind Krankheitsrisiken in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt: Sie beträfen Menschen, die in beengten Verhältnissen leben müssen, etwa als Großfamilie in einer kleinen Wohnung oder als Geflüchtete in einer Gemeinschaftsunterkunft, Menschen, die in Berufen mit höherer Infektions- oder Verletzungsgefahr arbeiten, Menschen ohne Obdach mit erschwertem Zugang zu sanitären Anlagen, besonders stark. "Diese Lebensumstände für eine erhöhte Gesundheitsgefährdung treffen fast ausschließlich auf Menschen zu, die armutsbetroffen und auch dadurch schon einem höheren Risiko für physische und psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, etc. ausgesetzt sind", erläutert Trabert.
Dazu komme, dass Präventions- und Gesundheitsinformationen häufig nicht für alle zielgruppengerecht aufbereitet werden. "Wenn es um die Sicherheit von Leib und Leben geht, müssen die Informationen doch für alle gut verständlich sein. Da muss die Bundesregierung sicherstellen, dass auch Menschen mit Lese- oder Verständnisschwäche oder mit Sprachbarrieren niedrigschwellig erreicht werden und alles begreifen können", betont Manfred Klasen, Mitglied der AG Gesundheit der nak und Geschäftsführer der Saarländischen Armutskonferenz.
Armutsbetroffene Menschen bzw. ihre Vertretungen seien oft von Entscheidungsstrukturen ausgeschlossen. Hier fordert die nak: Auch sie müssen beteiligt werden, wenn es um die Ausgestaltung von Angeboten, Richtlinien und Gesetzen im deutschen Gesundheitsversorgungssystem geht.
Manfred Klasen: "Betroffene sind Expert*innen, deren Stimmen bei der Entwicklung, Umsetzung und Auswertung von Maßnahmen zur Gesundheitsversorgung und Prävention nicht fehlen dürfen!"
Hintergrundinformationen:
- Durchschnittlich geben Bürger:innen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 104 € privat für ihre Gesundheit aus.
Die Höhe der Gesundheitsausgaben hängt stark von den Einkommensverhältnissen der Haushalte ab.
2019 gaben Haushalte mit einem Einkommen unter 1300 Euro durchschnittlich 21 Euro pro Monat für Gesundheitsdienstleistungen und -produkte aus.
Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 2600 Euro bis unter 3600 Euro investierten bereits mehr als dreimal so viel in Gesundheitsausgaben (pro Monat 78 Euro).
- Für sogenannte medizinische Verbrauchsgüter (Pflaster, Fieberthermometer, Schutzmasken,…) geben Haushalte im Durchschnitt 27 Euro pro Monat aus.
Die Ausgaben lagen in einkommensschwächeren Haushalten bei durchschnittlich 9 Euro bis 13 Euro pro Monat. In Haushalten mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 2600 bis unter 3600 Euro betrugen die Ausgaben schon 23 Euro. Bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 5000 Euro und mehr waren es dann durchschnittlich 50 Euro im Monat
- Der Hartz IV-Regelsatz sieht 17,37 € pro Monat für Gesundheit vor.
- Für Sozialleistungsbeziehende werden Präventions- und Gesundheitskosten wie z. B. Sehhilfen, Verhütung, Physiotherapie, Zahnersatz, apothekenpflichtige Medikamente i.d.R. nicht übernommen.
- Fahrten zu Praxen/Kliniken werden nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und nur nach vorheriger Genehmigung von der Krankenkasse übernommen.
- Das Robert-Koch-Institut kommt nach der Datenanalyse des sozioökonomischen Panels der Jahre 1992-2016 zu dem Ergebnis, dass 13 % der Frauen und 27 % der Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe nicht das 65. Lebensjahr erreichen.
In der höchsten Einkommensgruppe trifft dies lediglich auf 8 % der Frauen und 14 % der Männer zu.
Bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt liegt der Lebenserwartungsunterschied zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe bei Frauen bei 4,4 Jahren und bei den Männern bei 8,6 Jahren.
Dies bedeutet, dass von Einkommensarmut betroffene Menschen in dieser reichen bundesdeutschen Gesellschaft deutlich früher sterben als wohlhabende Mitbürger:innen. Diese konkreten Unterschiede in der Lebenserwartung sind eine extreme Ausprägungsform von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft.
Pressemitteilung der Nationalen Armutskonferenz vom 24. Oktober 2022