Die Kindergrundsicherung: Herausforderungen aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit – ein Interview

Im Koalitionsvertrag haben sich die Ampelparteien auf die Einführung einer Kindergrundsicherung verständigt (siehe Infokasten). Mit dieser neuen Leistung soll die finanzielle Unterstützung für Familien deutlich verbessert und vereinfacht werden. Die genaue Höhe und Ausgestaltung sind allerdings noch unklar. Eine Arbeitsgruppe des Bundes, an der sechs verschiedene Ministerien beteiligt sind, soll bis Ende 2023 ein entsprechendes Konzept erarbeiten. Ein wichtiger Baustein wird dabei die Bündelung verschiedener familienpolitischer Leistungen sein, von denen einige aktuell von der Bundesagentur für Arbeit (BA) administriert und ausgezahlt werden.

Damit ist die Expertise der BA von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, ein grundlegend neues Leistungssystem der Familienförderung aufzubauen, das seine Funktionsfähigkeit auch in der Praxis unter Beweis stellen muss. Im Interview für das IAB-Forum äußert sich Vanessa Ahuja, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, zur geplanten Kindergrundsicherung.

Wie reformbedürftig ist das bisherige System der Familienförderung aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit?

Vanessa Ahuja: Über die Förderung werden Familien finanziell unterstützt. Zugleich schaffen wir damit die Grundlage für die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern, damit auch Heranwachsende aus sozial benachteiligten Familien im Verein Sport treiben, an der Klassenfahrt teilnehmen oder ein Instrument lernen können. Es mangelt also nicht am Angebot selbst. Allerdings verlieren sich die guten Angebote zu häufig im Dschungel verschiedener Behörden, die wiederum nur isoliert über das eigene Spektrum der Leistungen informieren. Deswegen sehen wir durchaus einen Reformbedarf bei der Familienförderung.

Es gibt viele unterschiedliche staatliche Leistungen, die nicht überschneidungsfrei oder logisch aufeinander abgestimmt sind. Teilweise sind die Leistungen auch bei den Bürgerinnen und Bürgern unbekannt oder die bürokratischen Hürden werden als zu hoch empfunden. Nicht immer werden also Leistungen, auf die ein Anspruch bestünde, beantragt. Als die Leistung „Bildung und Teilhabe“ in der Grundsicherung eingeführt wurde, brauchte es viel Kraft und Zeit, die Angebote an Kundinnen und Kunden heranzutragen. Übrigens betrifft das nicht nur Leistungen, sondern auch Beratungsangebote.

"Ein Leistungsanspruch darf nicht daran scheitern, dass die Leistung unbekannt ist oder die bürokratischen Hürden zu hoch sind."

Worauf kommt es aus Ihrer Sicht bei der Ausgestaltung der neuen Kindergrundsicherung an?

Die neue Kindergrundsicherung muss drei Zielen gerecht werden: Erstens muss die Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit erhöht werden. Dazu gehören finanzielle Leistungen, aber auch Beratungsangebote. Zweitens müssen die Leistungen gebündelt beantragt und ausgezahlt werden. Ein Leistungsanspruch darf nicht daran scheitern, dass die Leistung unbekannt ist oder die bürokratischen Hürden zu hoch sind. Und drittens sollen die Angebote möglichst unbürokratisch, digital und zudem flächenweit vernetzt beansprucht werden können. So entlasten wir Familien.

Wie steht es um die Schnittstelle zwischen der Grundsicherung und der geplanten Kindergrundsicherung?

Die ist eine große rechtsgestalterische Herausforderung. Beide Systeme müssen durchgängig das jeweilige Existenzminimum der Anspruchsberechtigten gewährleisten. Gleichzeitig darf es nicht zu zusätzlichen Wegen und Aufwänden für ein und dieselbe betroffene Familie kommen. Und auch die Jobcenter und Familienkassen sollten keine Mehrarbeit damit haben.

Sehen Sie die Gefahr, dass den Betroffenen im neuen System der Kindergrundsicherung der Zugang zu arbeitsmarktpolitischer Förderung erschwert werden könnte, wenn sie dank der Kindergrundsicherung aus dem SGB II herausfallen?

Nein. In der Kindergrundsicherung werden Familien ausschließlich in den Lebenslagen der Familienförderung betreut – durch Information, Beratung und Leistungsgewährung. Berufliche Aspekte, etwa Fragen der beruflichen Orientierung, Beratung und Integration in Arbeit oder Aus- und Weiterbildung, werden weiterhin durch die Arbeitsagentur oder das Jobcenter erbracht.

"Es braucht ein System, das bundesweit aufgestellt ist und einheitlich arbeitet. Das kann eine Bundesbehörde am ehesten leisten."

Bislang ist ja völlig offen, welche Behörde die neue Leistung überhaupt verwalten und auszahlen soll. Wo wäre diese Aufgabe aus Ihrer Sicht am besten aufgehoben?

Es braucht ein System, das bundesweit aufgestellt ist und einheitlich arbeitet. Menschen in Kiel, Düsseldorf oder im Allgäu sollen dasselbe digitale Angebot nutzen können. Das kann eine Bundesbehörde am ehesten leisten. Die Bundesagentur für Arbeit wäre grundsätzlich dazu bereit, denn unsere Familienkasse zahlt bereits jetzt zuverlässig an monatlich zehn Millionen Familien und knapp 17 Millionen Kinder Leistungen aus. Zudem hat die Familienkasse einen klaren digitalen Kompass. Notwendig sind aber entsprechende Ressourcen, etwa für IT-, Personal- und Sachkosten. Außerdem bräuchten wir für die Umsetzung einen realistischen Zeitplan. Die Kindergrundsicherung ist ein sehr großes familienpolitisches Reformvorhaben, dass weder von heute auf morgen noch zum Nulltarif umgesetzt werden kann.

Sie haben darauf hingewiesen, dass sich die entsprechenden Behörden, die familienpolitische Leistungen erbringen, besser vernetzen müssen. Gibt es hierfür schon erste vielversprechende Beispiele?

Ja. Ich nenne als eines von vielen das Pilotprojekt „Kinderleicht zum Kindergeld“ unserer Familienkasse mit der Hansestadt Hamburg. Dort können Namensvergabe, Steuer-ID, Anmeldung bei der Kommune und auch der Antrag auf Kindergeld in einem Rutsch erfolgen. Mit diesem „Service aus einer Hand“ ersparen wir den Familien dort viel Zeit und Nerven.

"Mir ist es wichtig, neben der finanziellen auch die gesellschaftliche Dimension zu betrachten."

Wenn das Leistungsniveau in der Kindergrundsicherung deutlich höher ausfällt als im bisherigen System und zugleich mehr Familien entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen, weil der Zugang vereinfacht wird – droht dann nicht ein massiver Kostenschub?

Natürlich können zusätzliche Kosten anfallen. Allerdings führen gebündelte Leistungen auch zu Effizienzgewinnen in der Verwaltung. Mir ist es wichtig, neben der finanziellen auch die gesellschaftliche Dimension zu betrachten. Mit einer finanziellen Förderung und einer qualitativ guten Beratung verbessern wir die Startchancen für junge Menschen erheblich. Ein frühzeitig investierter Euro kann später so manchen Euro an anderer Stelle einsparen. Wie viel Geld für die Kindergrundsicherung bereitgestellt wird, entscheidet am Ende aber der Gesetzgeber. Wir setzen es dann mit unserer Expertise um, wenn die BA eine Rolle spielen soll.

Zur Person

Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war Vanessa Ahuja von 1995 bis 1999 Referentin für Arbeitsmarktpolitik bei der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Von 1999 bis 2007 arbeitete sie in verschiedenen Bundesministerien als Referentin, von 2007 bis 2014 als Referatsleiterin, von 2014 bis 2018 als Unterabteilungsleiterin und von 2018 bis 2022 als Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Sie war dort mit verschiedenen Themen und Grundsatzfragen der Arbeitsmarktpolitik betraut. Vanessa Ahuja ist seit Mai 2022 Mitglied des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit. In ihrem Ressort „Leistungen und Internationales“ verantwortet sie unter anderem die Umsetzung des geplanten Bürgergeldes. Auch die Fachkräftezuwanderung sowie die Leistungen der Familienkasse fallen in ihren Zuständigkeitsbereich.

 

Literatur

Bruckmeier, Kerstin; D’Andria, Diego; Wiemers, Jürgen (2022): Universal, targeted or both: Effects of different child support policies on labour supply and poverty – A simulation study. IAB-Discussion Paper Nr. 6.

Lietzmann, Torsten; Wenzig, Claudia (2021): Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für unter Dreijährige: Welche Familien profitieren vom Ausbau? In: IAB-Forum, 26.07.2021.

Lietzmann, Torsten; Wenzig, Claudia (2020): Materielle Unterversorgung von Kindern. Gütersloh: Bertelsmann.

Schludi, Martin (2022): Einschätzungen zur geplanten Kindergrundsicherung aus Sicht der Forschung. In: IAB-Forum, 20.04.2022.

Stichnoth, Holger; Camero Garcia, Sebastian; Dörrenberg, Philipp; Neisser, Carina; Riedel, Lukas; Ungerer, Martin; Wehrdörfer, Nils; (2018): Kommt das Geld bei den Kindern an? Gütersloh: Bertelsmann.

Tophoven, Silke; Lietzmann, Torsten; Reiter, Sabrina; Wenzig, Claudia (2017): Armutsmuster in Kindheit und Jugend – Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut. Gütersloh: Bertelsmann.

von Martin Schludi, erschienen am 9. November 2022 im IAB-Forum