Ernährungsarmut in Deutschland? Der WBAE hat bereits 2020 in seinem umfangreichen Gutachten "Politik für eine nachhaltigere Ernährung" deutlich gemacht, dass es in Deutschland in einem erheblichen Umfang Ernährungsarmut gibt. Die Beachtung von sozialen Zielen und die Bekämpfung von Ernährungsarmut sei ein wesentlicher Aspekt einer Politik für eine nachhaltige Ernährung.
In der nunmehr vorgelegten Stellungnahme thematisiert der Wissenschaftliche Beirat die Entwicklung der Ernährungsarmut unter den Bedingungen der Pandemie. Der Bericht beziffert das Ausmaß der Menschen, die unter Ernährungsarmut leiden, auf rund drei Milionen Menschen oder 3,5% der Bevölkerung in Deutschland. Unter Ernährungsarmut versteht der Beirat zutreffenderweise mehr als die fehlende finanzielle Fähigkeit sich die für eine gesundheitsförderliche Ernährung notwendigen Lebensmittel zu kaufen ("materielle Armut"). Ebenso wichtig ist die "soziale Ernährungsarmut", also die Ermöglichung von gemeinsamer Nahrungsaufnahme. Gemeinsames Essen ist ein wichtiger Aspekt von sozialer Teilhabe. Dem Beirat ist daher zuzustimmen, wenn er für einen "integrativen Blick" wirbt, der diese beiden Aspekte zusammendenkt und damit sowohl Versorgungsmängel vermeidet als auch soziale Teilhabe ermöglicht.
Die Stellungnahme beschreibt, wie sich die Corona-Pandemie auf die Ernährungsarmut ausgewirkt hat. Während der Pandemie waren etwa zumindest temporär zahlreiche Kitas und Schulen geschlossen - und damit für viele Kinder und Jugendliche der Zugang auch zur (gemeinschaftlichen) Mittagsverpflegung. Ebenso waren auch zivilgesellschaftliche Unterstützungsangebote wie insbesondere die Tafeln geschlossen. Der Staat hat während der Pandemie auf die spezifischen Bedürfnisse von armutsgefährdeten Personen wenig Rücksicht genommen. Zu diesem Befund ist auch der Paritätische Armutsbericht 2021 ("Armut in der Pandemie") gekommen. Der Beirat bestätigt nunmehr mit Blick auf die Ernährungsarmut, dass Staat zwar erhebliche Mittel zur Bewältigung der Folgen der Pandemie eingesetzt hat, dabei aber armutsgefährdete Gruppen "nicht ausreichend im Fokus der Maßnahmen zur Abmilderung der Pandemiefolgen" (VIII) standen.
Auf der Grundlage der ausführlichen Analyse - auch mit einem internationalen Vergleich - leitet die Stellungnahme zahlreiche Empfehlungen ab, die zum einen einen bessere Vorbereitung für ähnlich gelagerte akute Krisen bezwecken, zum anderen aber auch grundsätzliche Überlegungen zur Vermeidung und Bekämpfung von Ernährungsarmut formulieren. Grundsätzlich spricht sich der Beirat für ein System der finanziellen Transfers (Bürgergeld) aus (statt etwa Lebensmittelgutscheine oder die Bereitstellung von warmen Mahlzeiten). Das deutsche System sei in dieser Hinsicht im Grundsatz zu begrüßen. Allerdings sei das Bürgergeld nicht ausreichend hoch, um materielle und soziale Ernährungsarmut zu vermeiden. Tatsächlich stehen aktuell Leistungsberechtigten in der Grundsicherung ("Bürgergeld") anteilig lediglich 174 Euro / Monat für Essen und Trinken zur Verfügung. Soziale Teilhabe etwa in der Form von außerhäusiger Verpflegung gilt als "nicht regelbedarfsrelevant" und wird Grundsicherungsbeziehenden nicht zugebilligt. Die Forderung des WBAE nach einer neuen Methodik für die Bedarfsermittlung für die Ernährung stößt aber bei der Bundesregierung bislang auf taube Ohren. Komplementär zu besseren Leistungen in der Grundsicherung spricht sich der Beirat für einen "Systemwechsel zu einer integrativen, beitragsfreien und somit nicht-diskriminierenden Kita- und Schulverpflegung" aus, die den Standards der DGE entsprechen solle. Ehrenamtliches Engagements solle ergänzend unterstützt werden.
Die weiteren konkreten Vorschläge und Empfehlungen des WBAE lassen sich im Detail hier nachlesen.
Der Beirat spricht sich dafür aus, dass Ernährungsarmut eine herausgehobene Bedeutung bei der geplanten Nationalen Ernährungsstrategie spielen soll. Dies wäre in der Tat sehr zu begrüßen, müsste dann aber auch mit konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung von (Ernährungs-)Armut verknüpft werden.
Fachinfo des Paritätischen Gesamtverbandes vom 22. März 2023