Mit dem Teilhabechancengesetz wurden zum Jahresbeginn 2019 mit den Instrumenten „Eingliederung von Langzeitarbeitslosen“ (§ 16e SGB II) und „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16i SGB II) neue Möglichkeiten zur Förderung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen eingeführt. Insbesondere das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ fand aufgrund der Höhe der Zuschüsse und der Fokussierung auf Menschen, die sehr lange arbeitslos waren, große Aufmerksamkeit.
Dies galt umso mehr, als die soziale Teilhabe explizit als vorrangiges Ziel genannt wurde und vergleichbare Regelinstrumente über Jahre nicht verfügbar waren. Einige Beobachterinnen und Beobachter sprachen bereits von der Schaffung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ oder gar einem Paradigmenwechsel in der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Mit dem zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretenen Bürgergeld-Gesetz wurde auch die politische Entscheidung über die Zukunft des Instruments „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (TaAM) getroffen. Die ursprünglich bis Ende 2024 befristete Förderung wurde vorzeitig und vor Abschluss der wissenschaftlichen Evaluation auf Dauer im Instrumentenkasten des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) verankert.
Vor diesem Hintergrund diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik, aus Verwaltung und Praxis über ihre Einschätzungen der Reform und ihre Erfahrungen mit den Förderinstrumenten. Dabei traten durchaus kontroverse Perspektiven auf die Grundausrichtung von TaAM, die aktuellen Ausgestaltungsmerkmale und die Finanzierungsbedingungen zutage.
Umstritten war auch, ob die bisherige Zahl an Förderungen dem deutlich größeren Ausmaß verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit gerecht wird. Ungeachtet dessen waren sich die beteiligten Expert*innen einig, dass sich die Fördermöglichkeiten für besonders arbeitsmarktferne Leistungsberechtigte mit der Einführung von TaAM substanziell verbessert haben. Entsprechend einhellig wurde die Entfristung des Instruments von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern begrüßt.
Nach den Evaluationsergebnissen des IAB gelingt die Umsetzung der Förderung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ bislang gut
Zu Beginn stellte PD Dr. Joachim Wolff die zentralen Evaluationsergebnisse des IAB zu den beiden neuen Förderinstrumenten vor. Sein Resümee: Dem bisherigen Kenntnisstand nach zu urteilen, gelingt die Umsetzung der Förderung „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ durchaus gut. Nicht nur werden die formalen Fördervoraussetzungen eingehalten, auch das neu im Regelinstrumentarium eingeführte Coaching wird gut angenommen.
Die Förderung verbessert die soziale Teilhabe der Geförderten, eine der zentralen Zieldimensionen wird also erreicht. Zugleich finden sich bislang keine Hinweise auf unerwünschte Nebenwirkungen wie Mitnahme- oder Verdrängungseffekte. Gegen die vorzeitige Entfristung der Förderung, so die Einschätzung des IAB-Wissenschaftlers, sprechen die bislang vorliegenden Befunde nicht.
Die Ausführungen von Joachim Wolff wurden durch die Einschätzungen des Teilhabechancengesetzes und seiner bisherigen Umsetzung von Seiten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), des Deutschen Landkreistages und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ergänzt. Die Wichtigkeit des Instrumentes für die arbeitsmarktferne Zielgruppe und seine folgerichtige Entfristung war auch hier unstrittig. Individuelle Entfristungsmöglichkeiten im Sinne eines sozialen Arbeitsmarktes wurden hingegen kontrovers bewertet.
Vor allem eine auskömmliche Finanzierung und eine Erhöhung der PAT-Pauschale wurden in den Kommentaren thematisiert. In der Zwischenzeit wurden zum 1. Januar 2023 die Pauschalen des Passiv-Aktiv-Transfers (PAT) zur Finanzierung von Förderungen „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ tatsächlich erhöht. In der Folge können die Jobcenter zusätzlich bis zu 150 Millionen Euro pro Jahr für die Finanzierung des sozialen Arbeitsmarktes aktivieren.
In vier Arbeitsgruppen wurden zentrale Fragen rund um das Teilhabechancengesetz und dessen Umsetzung vertieft
In vier Arbeitsgruppen wurden anschließend zentrale Aspekte vertiefend diskutiert. Die erste Arbeitsgruppe befasste sich mit den Zielgruppen und Zielsetzungen der 2019 neu geschaffenen Förderinstrumente. Einig war man sich darin, dass die positive Wirkung geförderter Beschäftigung auf die soziale Teilhabe der Geförderten und auf andere subjektive Indikatoren, etwa die Lebenszufriedenheit, mittlerweile als gesichertes Wissen gelten kann. In diesem Sinne kann die Förderung nach §16i SGB II als äußerst effektiv betrachtet werden.
Die Effizienz der Maßnahme wurde hingegen teils infrage gestellt, insbesondere mit Blick auf die zu erwartenden geringen Übergangschancen in ungeförderte Beschäftigung. So wurde die Frage kontrovers diskutiert, inwieweit die Förderung von §16i bei Beschäftigungsträgern überhaupt unterstützenswert ist, da hier nicht mit nennenswerten Übernahmen in ungeförderte Beschäftigung zu rechnen sei.
In der zweiten Arbeitsgruppe zum Thema „Coaching“ konnten sich die teilnehmenden Expertinnen und Experten darauf verständigen, dass die Qualifikation der Coaches (Veröffentlichung von qualifikatorischen Standards) und ein angemessener Betreuungsschlüssel (30 bis 40 Fälle pro Coach) wesentliche Erfolgsfaktoren der ganzheitlichen Betreuung sind. Als Lösung für den teils auch in diesem Bereich zu beobachtenden Fachkräftemangel wurde eine engere Kooperation mit der betrieblichen Sozialarbeit diskutiert.
Offen blieb hingegen die Frage nach der Rolle des Jobcenters im Coaching-Prozess, insbesondere im Falle einer Fremdvergabe des Coachings. Entzieht sich das Jobcenter bei der praktischen Umsetzung des Coachings seiner sozialstaatlichen Verantwortung und sollte es den Gesamtprozess entsprechend stärker steuern?
Einig waren sich die Teilnehmer*innen der Arbeitsgruppe, dass Arbeitgeber stärker bei der Realisierung des Coachings in die Pflicht genommen werden sollten, zum Beispiel in Gestalt des Zugangs zum Betrieb während der Arbeitszeit.
Geschlechtsspezifische Rollenmuster spiegeln sich auch im Zugang zur Förderung wider
Die dritte Arbeitsgruppe befasste sich mit Aspekten der Gleichstellung. Sie kam zu dem Schluss, dass sich die in der Gesellschaft vorherrschenden geschlechtsspezifischen Muster im Kontext der Förderung nach §16e/i reproduzieren. Beispielsweise wird Familien- oder Pflegearbeit bei Frauen verortet. Vollzeit steht daher bei ihnen nicht im Fokus. Diese Rollenmuster zeigen sich auch beim Zugang in die Förderung. Die Rollenzuweisungen finden sich auf unterschiedlichen Ebenen, unter anderem bei Arbeitgebern, den Geförderten selbst und den Mitarbeitenden der Jobcenter. Diskutiert wurden daher Möglichkeiten, diese Muster pragmatisch aufzubrechen, und Möglichkeiten der Jobcenter, dazu beizutragen.
Ansatzpunkte wurden in der Verbesserung der Rahmenbedingungen gesehen, zum Beispiel bei der Kinderbetreuung. Zudem könnte der Zugang zu den Instrumenten für Frauen, insbesondere für Mütter, erleichtert werden, indem beispielsweise die Zugangsvoraussetzung für eine Förderung nach § 16i auf fünf Jahre verringert wird.
Darüber hinaus sollten die Jobcenter die Förderung von Frauen auch auf ihre eigene Agenda setzen. Sie sollte zur Führungsaufgabe gemacht werden und in den einzelnen Häusern breit(er) thematisiert werden. Außerdem könnte die gendersensible Beratung gestärkt werden, indem spezialisierte Fachkräfte sich intensiv mit den Bedarfen von Müttern befassen und frühzeitige Angebote machen.
Die Arbeitsmarktintegration spielt trotz der arbeitsmarktfernen Zielgruppe eine zentrale Rolle
Für die Jobcenter ist das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ von deutlich höherer Relevanz als die Förderung „Eingliederung von Langzeitarbeitslosen“. Dies unterstreichen nicht nur die Befunde der Evaluation durch das IAB. Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Jobcenter in der vierten Arbeitsgruppe äußerten sich in diesem Sinne. Sie befasste sich mit dem Teilhabechancengesetz im Kontext der Arbeitsförderung.
Angesichts der verschiedenen Zielsetzungen des Instruments „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ wird der Arbeitsmarktintegration – trotz der arbeitsmarktfernen Zielgruppe – durchaus eine zentrale Rolle beigemessen. Entsprechend kontrovers wurde diskutiert, wie die Ziele „Teilhabeverbesserung“ und „Arbeitsmarktintegration“ sinnvoll austariert werden sollten.
So wurde zum einen die Position vertreten, den vermeintlichen Gegensatz der beiden Zieldimensionen zugunsten eines stärker integrativen Verständnisses beider Ziele aufzulösen. Dem wurde entgegengehalten, dass die ohnehin schon zentrale Rolle der Arbeitsmarktintegration durch diesen Ansatz faktisch noch dominanter würde. Dies könne die Zugangschancen besonders arbeitsmarktferner Leistungsberechtigter und damit der eigentlichen Zielgruppe des Instruments beeinträchtigen.
Ungeachtet dieser Kontroverse bestand hingegen Einigkeit, dass Geförderte, die nicht in ungeförderte Beschäftigung übergehen (können), mehr Anschlussperspektiven benötigen. In diesem Zusammenhang wurde nochmals die bereits im Plenum angeklungene Frage erörtert, inwieweit der Rechtskreis des SGB II für Leistungsberechtigte, die nicht für eine Förderung nach § 16i infragekommen, adäquat ist.
Aktivierung, Recht auf Arbeit oder bedingungsloses Grundeinkommen: Am Abend wurden sozialpolitische Grundsatzfragen diskutiert
Das Teilhabechancengesetz ist eine von mehreren Möglichkeiten, verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit zu begegnen. Dahinter steht der Grundgedanke, Langzeitarbeitslose an Erwerbsarbeit zu gewöhnen beziehungsweise in diese einzubinden, um ihre soziale Integration und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten zu fördern. Auf diesem Wege sollen zugleich Brücken in ungeförderte Beschäftigung und damit in ein Leben jenseits des Hilfebezugs gebaut werden.
Welche alternativen sozialpolitischen Ansätze für den Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit in lohnarbeitszentrierten Gesellschaften zielführend sein könnten und welche Möglichkeiten und Risiken diese beinhalten, stand beim abendlichen Kamingespräch im Fokus.
Zu Gast waren dabei Sigrid Betzelt, Professorin für Gesellschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationssoziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Hilmar Schneider, Professor an der Universität Luxemburg und bis 2022 Leiter des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit, und Jürgen Schupp, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Empirische Sozialforschung an der Freien Universität Berlin und als Wissenschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für das Sozio-oekonomische Panel tätig.
Sie rangen um die Frage, welche Risiken und Gewinne aktivierende Ansätze im Zuge der Hartz-Reformen mit sich gebracht hätten und welche Alternativen zum derzeitigen Sozialsystem denkbar wären. Dabei wurde deutlich, dass vor allem unterschiedliche Annahmen über die Ursachen und Stigmatisierungspotentiale von Arbeitslosigkeit einerseits sowie der Rolle von Autonomiespielräumen andererseits leitend für die jeweilige Einschätzung alternativer sozialpolitischer Instrumente sind.
Das gilt nicht zuletzt für die Frage, ob das bedingungslose Grundeinkommen und dessen Grundidee einer individuellen Entkopplung von Arbeit und Einkommen die Krisen der Arbeitsgesellschaft lösen und Existenzängste der Menschen in Zeiten umfassender Veränderungen lindern kann. Die lebendige Debatte wurde im Nachgang in der Galerie der Loccumer Akademie in persönlichen Gesprächen vielfach weitergeführt.
Arbeitsmarktpolitik für langzeitarbeitslose Menschen: Wohin geht die Reise in der neuen Legislaturperiode?
Das Podium am zweiten Tagungstag bilanzierte zum Abschluss die bisherigen Entwicklungen des Teilhabechancengesetzes und beleuchtete die Herausforderungen in der Arbeitsmarktpolitik für langzeitarbeitslose Menschen.
Nach einem Zwischenresümee von IAB-Vizedirektor Prof. Dr. Ulrich Walwei diskutierten dort Dr. Yvonne Kaiser, Leiterin der Abteilung Arbeitsmarktpolitik im BMAS, Margrit Zauner, Abteilungsleiterin Arbeit und Berufliche Bildung in der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Dr. Anna Robra, Abteilungsleiterin Arbeitsmarkt bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Evelyn Räder, Leiterin der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund, und Daniel Terzenbach, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit.
Vor allem das Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ wurde als Erfolgsmodell und Paradigmenwechsel eingestuft. Zudem wurden weitere Verbesserungsbedarfe in Hinsicht auf Geförderte mit Migrationshintergrund, geschlechterspezifische Ungleichheiten und Qualifizierung in Aussicht gestellt.
Unterschiedliche Perspektiven gab es ähnlich wie in den betreffenden Arbeitsgruppen in Bezug auf die Zielausrichtung. Das betraf zum Beispiel die Frage, ob der Fokus mittelfristig auf der Arbeitsmarktintegration der Geförderten liegen muss, oder ob die Verbesserung sozialer Teilhabe auch als eigenständiges Ziel denkbar ist.
Die personelle und finanzielle Ausstattung im Verwaltungstitel und im Eingliederungstitel wurden ebenfalls als offene Baustellen angesehen, der Passiv-Aktiv-Transfer als ausbaufähig deklariert. Diese und andere Fortentwicklungen sollen nach Vorstellung des Arbeitsministeriums mit dem nächsten Bürgergeld-Gesetz in Angriff genommen werden.
verfasst von Claudia Globisch & Philipp Ramos Lobato, erschienen am 15. Mai 2023 im IAB-Forum