Seit 2001 legt die Bundesregierung in jeder Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht vor. Der Paritätische hat den aktuell vorliegenden Entwurf eines 6. Armuts- und Reichtumsberichts ausführlich analysiert. Der Bericht dokumentiert die fortschreitende Spaltung zwischen Arm und Reich.
Er geht dabei weiter als frühere Berichte, indem er nicht nur Einkommen und Vermögen betrachtet, sondern weitere Aspekte einbezieht, um multidimensionale Lebenslagen darzustellen. Anders als vorangegangene Berichte werden dabei auch nicht nur Momentaufnahmen nebeneinandergestellt, sondern Entwicklungen im Zeitverlauf dargestellt. Dabei wird nachgewiesen, dass Armut und Reichtum verfestigen und die Polarisierung der Gesellschaft stetig zunimmt.
Der vorliegende Berichtsentwurf unterschätzt dabei eher das Ausmaß der wachsenden und sich verfestigenden Ungleichheit. Der Paritätische hat dabei Vorarbeiten zum Bericht mit dem vorliegenden Berichtsentwurf verglichen und dabei deutliche Abweichungen festgestellt. Ein Beispiel: noch 2019 wurden im Beirat zum Armuts- und Reichtumsbericht Zahlen vorgestellt, nachdem sich im Zeitraum 2012/2016 14,2 Prozent der Bevölkerung in der Lebenslage “Verfestigte Armut” befanden. Im Berichtsentwurf wird nun für denselben Zeitraum nur noch von 10,2 Prozent der Bevölkerung in der Lebenslage “Armut” gesprochen. Eine Veränderung wurde auch bei der Bezeichnung der Lebenslagen vorgenommen. Wurde früher noch ganz selbstverständlich von Reichtum gesprochen, wird im vorliegenden Berichtsentwurf stattdessen von “Wohlhabenheit” gesprochen. Der Paritätische kritisiert die neuen Annahmen.
Der Paritätische arbeitet einen weiteren Aspekt heraus, weshalb Armut im Bericht er untererfasst wird. So bleibt die Verschuldung von Haushalten bei der Bestimmung der einzelnen Lebenslagen nicht berücksichtigt. Ver- und Überschuldung betrifft aber insbesondere einkommensarme Haushalte. Bleibt die Verschuldung unberücksichtigt, so bleibt auch außer Betracht, dass das den Haushalten zugeschriebene Einkommen diesen in der Regel gar nicht zur Verfügung steht, weil ein Teil davon für den Schuldendienst gebunden ist. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das tatsächliche Ausmaß der Deprivation nicht erfasst wird,
Der Paritätische begrüßt, dass das BMAS zusätzliche Erkenntnisse zu den sozialen Folgen der Pandemie in den Bericht aufgenommen hat. Diese zeigen, Menschen mit geringeren Einkommen deutlich stärker von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Das bestätigt die Kritik des Paritätischen an der viel zu geringen Unterstützung einkommensarmer Haushalte in der Pandemie. Selbst die zugesagte Einmalzahlung von 150 Euro wurde bis heute nicht ausgezahlt.
Der Paritätische hat auch verglichen, welche Veränderungen es vom ersten Berichtsentwurf, der in die Ressortabstimmung in der Bundesregierung ging, bis zum nun vorliegenden Berichtsentwurf gab. Wie bereits in der Vergangenheit, wurden einzelne kritische Befunde, die noch im ersten Entwurf erhalten waren, nicht in den vorliegenden Entwurf aufgenommen. Das betrifft etwa die Feststellung, dass eine erhebliche Anzahl von Beschäftigten auch nach Einführung und Anhebung des Mindestlohnes darunter liegende Löhne erhält.
Besonders zu begrüßen ist, dass für den Bericht durch das DIW eine verbesserte Datengrundlage für die Erfassung von hohen Vermögen geschaffen wurde. Bisher wurden hohe Vermögen nahezu nicht erfasst. Für den zurückliegenden Bericht waren nur 136 Millionäre befragt wurden, überwiegend solche, die dennoch nicht zu den Superreichen zählten. Das DIW hat für den Bericht im Auftrag des BMAS auch Unternehmensdaten analysiert und so 1,7 Millionen Menschen identifiziert, die Unternehmensanteile in Deutschland besaßen. Davon wurden 2.000 für den Bericht befragt. Das ermöglicht einen neuen Blick auf Reichtum in Deutschland und zeigt, dass dieser bisher viel zu gering veranschlagt wurde. Tatsächlich zeigt der Bericht, dass Menschen, die zur vermögensstärksten Hälfte der Bevölkerung zählten, 99,5 Prozent des Gesamtvermögen besitzen. Umgekehrt bedeutet dies, dass sich die vermögensärmere Hälfte der Personen in Deutschland 0,5 Prozent der Gesamtvermögen teilen.
Der Bericht zeigt auch, dass kaum Wege aus Armut herausführen. Um die soziale Mobilität ist es schlecht bestellt. Wer einmal arm ist, hat kaum eine Chance, den sozialen Aufstieg zu schaffen. In Studien für den Bericht sind dazu dramatische Befunde enthalten, viele von ihnen haben aber keinen Eingang in den Bericht gefunden. Das betrifft etwa die Feststellung, dass in der Fünfjahresperiode von 2013/17 nur 12 Prozent Prozent der Heranwachsenden im Alter von 12–15 Jahren der Lage Armut und nur 15 Prozent der Lage Prekarität ein Gymnasium besuchten, aber jeweils über 60 Prozent der Jugendlichen der Lagen Wohlhabenheit-Mitte, Wohlstand und Wohlhabenheit. Das zeigt: um Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem ist es nicht gut bestellt. Seit 1980 haben sich die Aufstiegsperspektiven aus unteren sozialen Lagen deutlich verschlechtert.
Erstmals zeigt der Bericht die katastrophalen Folgen der Agenda 2010 für die Absicherung von Arbeitslosen auf. 1995 war ein Drittel der Arbeitslosen noch der sozialen Lage “Mitte” zuzuordnen und lediglich 15 Prozent der sozialen Lage Armut. Diese Verteilung hat sich bis 2015 dramatisch verschoben: 2015 waren zwei Drittel aller Arbeitslosen der sozialen Lage “Armut” zuzuordnen und nur noch weniger als zehn Prozent der “Mitte”. Das zeigt, wie der soziale Schutz von Menschen ohne Beschäftigung reduziert wurde.
Der Paritätische hat in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass der als Armutsrisikoschwelle bezeichnete Wert von 60 Prozent des bedarfsgewichteten Medianeinkommens nicht nur ein abstraktes Armutsrisiko markiert, sondern schlicht Armut bedeutet. Das gilt umso mehr, als dass einkommensarme Menschen regelmäßig Einkommen deutlich unterhalb der Armutsschwelle haben. Die relative Armutslücke hat nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2019 einen neuen Höchstwert erreicht. Sie liegt durchschnittlich bei 23,2 Prozent. Bei Haushalten von Alleinlebenden entspricht das einem durchschnittlichen Medianeinkommen, dass im Schnitt mehr als 3.245 Euro unterhalb der Armutsschwelle liegt. Der Armuts- und Reichtumsbericht bestätigt nun selbst, dass die Bevölkerung die Perspektive des Paritätischen teilt. Nach Ansicht der für den Bericht Befragten liegt die Armutsschwelle bei etwa 1.000 Euro im Monat, was der statistischen “Armutsrisikoschwelle” entspricht. Das belegt einmal mehr, dass dieser Wert eben nicht nur eine abstrakte “Risikoschwelle” markiert, sondern eine Einkommenssituation, die auch in den Augen der Bevölkerung Armut bedeutet.
Die vollständige Stellungnahme des Paritätischen finden Sie hier
Quelle: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V., Joachim Rock, Stellungnahme vom 12.04.2021